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Du sollst nicht bewerten! – Oder vielleicht doch?

Veröffentlicht am 14. April 2021

Autorin: Petra Sewing-Mestre

Es klingt fast wie das 1. Gebot: „Du sollst nicht werten!“ Ohne diese Fähigkeit wären wir aber gar nicht lebensfähig. Geht es vielleicht mehr darum, das Bewerten richtig zu bewerten?

Diesen mahnenden Satz „Du sollst nicht werten!“ findet man sehr oft in vielen Ratgebern über Achtsamkeit und Spiritualität. Am besten strebt man demnach nach der vollständigen Wertfreiheit und nimmt alles, was einem im Leben so begegnet, mit stoischem Gleichmut hin.

Ganz im Vertrauen gesagt, irritieren mich solche Aussagen – und das neutrale Zur-Kenntnis-Nehmen von Menschen und Dingen gelingt mir sowieso nicht. Mein innerer Seismograph nimmt unablässig zur Kenntnis, womit ich ihn konfrontiere und teilt mir innerhalb von Sekundenbruchteilen mit, ob ihm diese Dinge, Situationen und Menschen genehm sind oder eben nicht.

Warum bewertet der Mensch eigentlich alles und jeden?

Die Erklärung dazu: Seit Urzeiten ist der Mensch mit einem Überlebenskompass ausgestattet. Dieses Warnlicht sichert das Überleben in einer feindlichen Umwelt voller Gefahren. Und es arbeitet blitzschnell. Alles das, was unsere fünf Sinne wahrnehmen, wird im Limbischen System des Gehirns dahingehend überprüft, ob es sich um Freund oder Feind handelt. Ohne das wir es bewusst wahrnehmen, erfolgt die Bewertung innerhalb kürzester Zeit. Obwohl wir heute nicht mehr die potentielle Gefährlichkeit von Säbelzahntigern beurteilen müssen, arbeitet unser Gehirn immer noch wie das eines Urmenschen. Diesen vollautomatischen Mechanismus können wir nicht abschalten, er ist Teil unseres genetischen Erbes und sichert auch heute noch unser Überleben.

Wir können aber in diesen Prozess eingreifen – um zu verhindern, dass unser urzeitlicher Autopilot uns vor die Wand fährt! Das Zauberwort heisst «Bewusstsein». Wir können lernen, uns unserer Bewertungen und Urteile bewusst zu werden, um den dahinter lauernden unbewussten Annahmen, Glaubenssätzen, Vorurteilen und Ängsten auf die Spur zu kommen.

Hilfreich wäre es auch, die einzelnen Begriffe im Wortfeld «Bewerten» genauer anzuschauen: Werten, bewerten, abwerten, beurteilen und verurteilen werden von uns oft gleichbedeutend verwendet. Aber nur einige von ihnen verursachen tatsächlich das bekannte mulmige Gefühl in uns.

Im Grunde geht es bei der Forderung des Nicht-Bewertens genau um diesen negativen Aspekt. Um das Ab-werten von Dingen oder Personen. Der amerikanische Psychologe Marshall B. Rosenberg erkannte genau diesen Unterschied bei der Entwicklung seines Konzeptes der «Gewaltfreien Kommunikation». Rosenberg unterscheidet zwischen «Werturteilen», die direkt aus unseren Wahrnehmungen, Gefühlen und Bedürfnissen entstehen und den «moralischen Urteilen», die etwas darüber aussagen, wie Dinge oder Menschen unserer Meinung nach zu sein haben. Bei den Werturteilen kommt unser Autopilot zum Einsatz, wir bewerten, ob etwas gut oder schlecht für uns ist. Aber wir machen unsere eigene Meinung eben nicht zum Massstab für andere.

Wir brauchen uns also nicht zu schämen, wenn wir immer noch nicht wertungsfrei durchs Leben gehen. Menschliches Leben ist ohne Bewertung überhaupt nicht möglich. Es geht vielmehr um das Bewusstsein. Wir sollten bemerken, was wir genau tun – bewerten, abwerten oder sogar moralisch verurteilen.

Das Be- oder Abwerten anderer Menschen hat übrigens auch mehr mit uns selbst zu tun, als uns lieb ist. Zum einen ist damit natürlich die Frage verbunden «Was denken die anderen über mich?». Diese Frage lässt mich schlimmstenfalls mein Leben völlig danach ausrichten, was andere für gut und angemessen halten.

Und zum anderen sagt meine Beurteilung anderer auch sehr viel über mich selbst aus. Wenn ich sehr negative Bewertungen vornehme, verursacht das sogar auch in mir negative Gedanken, Gefühle und Stresshormone.

Warum verbringen wir also unsere Zeit damit, andere zu kritisieren, wenn wir uns stattdessen um unser eigenes Wohlergehen kümmern könnten?

Auch hier kommt das Erbe der Urmenschen in uns wieder ans Tageslicht. Grundsätzlich dienen diese Verhaltensweisen letztendlich dazu, uns selbst sicher zu fühlen. Wenn wir andere kritisieren, vergleichen wir uns mit ihnen und kommen zu dem Schluss, dass unser Vorgehen das Bessere ist. Wir versuchen, unsere Entscheidungen zu rechtfertigen und nehmen unsere unbewussten Filter und Begrenzungen überhaupt nicht mehr wahr.

In der modernen Psychologie gibt es viele Wege aus diesem Dilemma. Aber das ist ein anderes, spannendes Thema. Wenn gar nichts mehr geht und wir die Zielscheiben unserer Kritik am liebsten auf den Mond schiessen würden, hilft es, wenn wir uns eine ganz besondere Zauberfrage stellen: «Was ist, wenn diese Person ihr Bestes versucht?»

Mich persönlich bringt diese Frage immer wieder auf den Boden. Zorn und Wut verpuffen meistens fast augenblicklich und machen Platz für Nachsicht und Mitgefühl.

Wie sollte ich an meiner Wut festhalten können, wenn eine Person wirklich ihr Bestes gibt?

Frauenakademie-Luzern, Praxis an der Hirschmattstrasse 11 Luzern, Image Bilder von Margherita Delussu Fotografie
Petra Sewing-Mestre, Gründerin und Leiterin Frauenakademie Luzern

Petra Sewing-Mestre
Coaching, Mental- und Kommunikationstraining
für Mädchen und Frauen

Frauenakademie Luzern
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